Zwei Lese-Empfehlungen zu den Scriba-Brüdern:

  • Ein Brief von Ferdinand Scriba vom 22. April 1899 über seinen Bruder Eduard an einen Gießener Professor aus dem Scriba-Archiv im Büchner-Portal
  • und Eduard Scriba – Vormärz-Revolutionär nun neu bei Wikipedia
  • und ein Email-Austausch mit einem Marburger Professor
Eduard Scriba 1808-1837
Ferdinand Scriba 1818-1900

Nachdem ich mich schon mit den FEDERFLÜGEN 23 und 24 ausgiebig mit dem Revolutionär Eduard Scriba und seinem jüngeren Bruder Ferdinand, meinem Ururgroßvater, beschäftigt hatte, erfreute mich zu Beginn des Jahres 2021 mitten in der dritten Corona-Welle dieses Fundstück aus dem Scriba-Familien-Archiv:

Hochgeehrtester Herr Professor!

In bereitwilliger Erwiederung Ihres Werten vom 15. d. M. kann ich Ihnen in Betr. Gießer Burschenschaft leider nur sehr wenig Material aus dem Leben meines Bruders Eduard darbringen. Derselbe bezog mit 18 Jahren (1826) die Universität Gießen, studierte zunächst Jura, und von 1829-32 Theologie mit Unterbrechung von 1828, wo er wegen Teilnahme an einer verbotenen Verbindung mit etwa 50 Leidensgenossen relegiert war, und von 1830, als er als Hausgenosse von Ernst Moritz Arndt in Bonn studierte. Im Jahre 1831 nach Gießen zurückgekehrt, wurde er daselbst 1832 nach wohlbestandenem schriftlichem, nur noch des mündlichen ermangelnden Examen abermals, und zwar damals ohne besondere gerichtliche Untersuchung, nur nach der „moralischen Überzeugung“ des Universitätsgerichts (Arends) mit 6 anderen in gleicher Verdammnis stehenden Kommilitonen relegiert, und damit seine hessische Laufbahn in Staat und Kirche zertrümmert …

Brief Ferdinand über Eduard Handschrift Seite 1

So beginnt der Brief, den mir Karin Scriba im Februar 2021 im Original schickte. Ferdinand Scriba berichtet darin 1899 über das kurze und aufregende Leben seines 10 Jahre älteren Bruders Eduard, der 1837 in Liverpool gestorben ist. Ferdinand hing sehr an dem Bruder und schreibt in dem Brief auch davon, was sie zusammen erlebten.

Ich brauchte das Original, weil ich in dem Wikipedia-Artikel, den ich über Eduard Scriba – Vormärz-Revolutionär geschrieben hatte (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Scriba), einen Briefausschnitt mit einem Fehler (heranguiert – dieses Wort gibt es gar nicht, ich hatte geglaubt, es hieße heranholen  – statt haranguiert) aus dem Archiv meines Vaters Eberhard Bondick in Anmerkung 27 übernahm. Diesen kleinen Briefausschnitt hatte er vermutlich mal von Otto-Adolf Scriba – mit samt dem Fehler – bekommen. Es geht um eine Wanderung der beiden Revolutionäre Eduard Scriba und August Becker aus Burkhards am südlichen Rand des Vogelsberges zu konspirativen Treffen nach Gießen Ende 1832 kurz vor dem Frankfurter Wachensturm 1833. Ferdinand Scriba, damals 14 Jahre alt, durfte sie begleiten.

Durch die Korrespondenz mit Professor Burghard Dedner, Leiter vom Georg-Büchner-Portal und der Forschungsstelle Georg Büchner in Marburg, den ich auf  den Wikipedia-Artikel hingewiesen hatte, kam der Fehler ans Licht. Ich schrieb ihm:

In der Transkription des Briefes von Ferdinand Scriba ist leider ein Fehler, der sich durch mehrere Abschriften fortgesetzt hat:

In dem Satz

Überall, wo sich irgend Gelegenheit fand, wurden die Bauern heranguiert.

muss es wohl richtig heißen “haranguiert” statt “heranguiert”. Ich habe das  Wort “haranguieren” (wohl sprechen, mit erhobener Stimme sprechen, feierlich anreden) in alten Texten (z. B. auch in: Eberhard Kickartz: “Der Rote Becker” auf S. 56) gefunden. Es passt in den Zusammenhang und Ferdinand wird es gekannt und 1899 sicher richtig geschrieben haben.

Diese Lesart bestätigte Professor Dedner.

Nun kann man einen Fehler auch als Autorin in Wikipedia-Artikeln nach den strengen Regeln nicht einfach verbessern, wenn der schon in der benutzten Quelle auftaucht. Also brauchte ich das Original des Briefes, das Karin Gott sei Dank fand. Da ich bis dahin nur einen Ausschnitt kannte, war der vollständige Brief ein echter Schatz für mich. Inzwischen ist die Korrektur im Wikipedia-Text in Anmerkung 27 eingearbeitet  und wurde wegen der Original-Quelle akzeptiert.

Weil ich diesen Brief, nachdem ich ihn vollständig transkribiert hatte, auch für das Büchner-Portal interessant fand, bot ich ihn nach Rücksprache mit Karin Professor Dedner an:

Nun ist der Brief von Ferdinand Scriba an den Gießener Professor fertig transkribiert, und ich schicke ihn zusammen mit der Handschrift nun also an Sie – den Marburger Professor. Ferdinand nennt einige Namen und gibt einen guten Überblick über das kurze Leben seines Bruders Eduard, den er in jungen Jahren bewunderte und sein Leben lang betrauerte. Interessant finde ich auch, dass Ferdinand 1840 in Gießen von den Umtrieben nichts mehr zu spüren bekam. Die Restauration hatte wohl ganze Arbeit geleistet.

Bis 1848 … 

Professor Dedner antwortete:

Ich habe Ihre Transkription inzwischen etwas gründlicher gelesen als seinerzeit und würde den Text in der Tat gern ins Büchnerportal aufnehmen. Vielen Dank also für das Angebot. Er enthält eine ganze Reihe von (mir jedenfalls) neuen Informationen über die “Helden des Hessischen Landboten”, an denen ich natürlich vor allem interessiert sein muss. Interessant ist dabei nebenher auch, dass die Landboten-Episode, deretwegen doch Personen wie Zeuner, Becker und Weidig vor allem inhaftiert und verurteilt wurden, bei Ferdinand Scriba unerwähnt bleibt. Die Gräben zwischen den Jungdeutschen um Scriba und den Menschenrechtlern um Büchner haben offenbar bis ans Ende des 19. Jahrhunderts überlebt …

Nachdem er noch einige Unleserlichkeiten klären konnte, ist jetzt der ganze Brief im Büchner-Portal zu finden unter LZ 2231 http://buechnerportal.de/dokumente/textdokumente/lz-2231/

oder über den Link auf der Eduard-Scriba-Seite http://buechnerportal.de/dokumente/personen/georg-friedrich-jakob-eduard-scriba/

Zu dem Satz über die Gräben, über die ich hier zum ersten Mal erfuhr und die mich in der Schärfe wunderten, schrieb ich ihm:

Interessant finde ich, dass Sie einen Graben zwischen Büchner und Scriba sehen, und ich mich stark für das Verbindende interessiert habe. Ziemlich sicher bin ich, dass sie sich wegen des Altersunterschiedes von fünf Jahren nicht begegnet sind. Als Büchner nach Gießen kam, war Eduard gerade weg. So war es auch in der Schweiz. Dass Büchner das “Junge Deutschland” als Organisation und auch einzelne Personen nicht schätzte, ist mir auch klar. Aber es gab Menschen, die beiden nahestanden. Bei Eduard sehe ich die Freundschaft zu Wiener, der ja auch bei den Menschenrechtlern mitgearbeitet hatte. Auch mit August Becker, Weidig, Zeuner und anderen fühlte er sich verbunden. In Federflug 23 habe ich versucht, mir über den Zusammenhang zwischen dem Jungen Deutschland und den Menschenrechtlern Klarheit zu verschaffen (Kapitel 9.5 und 9.6, S. 147 ff.). Eduard hat die franz. Verfassung von 1793 übersetzt und mit Anmerkungen versehen, die Wolfgang Schieder sehr ausführlich analysiert und wohlwollender betrachtet als Antje Gerlach. Thomas Michael Mayer schreibt von engen Verbindungen zwischen Weidig, Clemm, Schütz, August und Ludwig Becker und den Geflüchteten in der Schweiz: Schüler, Scriba, Schapper, Dieffenbach. Zwischen dem Büchner-Freund Braubach und Scriba gibt es einen Briefwechsel.

Sie merken es sicher, den Graben zwischen Büchner und Scriba möchte ich nicht so sehr tief sehen.

Dass der alte Ferdinand 1899 kein Revolutionär war, ist mir klar. Mit dem “Hessischen Landboten” hat er – falls er ihn überhaupt kannte – wohl wenig anfangen können. In seinem Lebenslauf schreibt er allerdings, dass er zeitweilig Anhänger von Robert Owen war (S. 124, Federflug 23 A, S. 42, Federflug 23 B). In Liverpool erfuhr er von Weidigs Tod “mit traurigen Gedanken” (S. 94, Federflug 23 B). Er war nach seiner Rückkehr aus Liverpool Pfarrer, Vater vieler Kinder und konservativ geworden, wie auch Wiener, mit dem er bis an dessen Lebensende freundschaftlichen Briefkontakt hatte … 

Prof. Dedner antwortete:

Zu dem “Graben” nur ganz kurz. Vielleicht können wir uns einigen, dass  
die Nähe ebenso bemerkenswert ist wie die Ferne. Einige konnten von  
der Scriba- zur Büchner-Linie wechseln, so Becker, Weidig oder   
(vorübergehend) Wiener. Andere konnten das dezidiert nicht, so z.B.  
Rosenstiel, und im Schweizerischen Jungen Deutschland suchte man  
Büchners Ruf zu untergraben. Wissen Sie darüber eigentlich mehr? Dass  
Weidig sich auf den Landboten eingelassen hatte, wollten manche seiner  
Freunde später gar nicht wahrhaben. Und für einen Pfarrer wie  
Ferdinand Scriba konnte es Ende des Jahrhunderts noch ehrenvoll sein,  
zu Eduard Scriba gestanden zu haben. Die Nähe zum Landboten verbuchte  
man bestenfalls als Jugendsünde (so Minnigerode in den USA). Aber  
wahrscheinlich kann man dazu noch viel mehr sagen. Haben Sie genug  
Material und Interesse, um darüber einen Aufsatz zu schreiben?

Meine Antwort im Juni:

Über die Rufschädigung Büchners durch Mitglieder des Jungen Deutschland weiß ich nur etwas durch die Informationen im Büchner-Portal: Die Intrige gegen Büchner von Georg Fein und Hermann Trapp.

Aus Eduard Scribas Briefen, die ich von Schweizer Archiven und dem Archiv Wolfenbüttel erhalten und transkribiert habe, geht hervor, dass es Auseinandersetzungen mit Georg Fein u.a. gab. Das Junge Deutschland war nicht homogen.

Auf seiner Wanderung durch die Schweiz mit Wiener trifft Eduard Scriba auch Hermann Trapp, der mit Ernst Dieffenbach zusammenwohnt, und übernachtet bei ihm.

Ich muss noch darüber nachdenken, ob ich mir zutraue, einen solchen Aufsatz zu schreiben. Spannend finde ich schon, herauszufinden, wer wann warum mit wem gegen wen agierte. So etwas herauszufinden ist schon unter Lebenden schwer genug. 

Als Arbeitstitel könnte ich mir vorstellen: “Nähe und Ferne zwischen dem Büchner-Kreis und dem Jungen Deutschland in der Schweiz.” Ob ich genug Material darüber habe, weiß ich noch nicht. Ich werde alles noch einmal durchsehen und mich dann entscheiden. Dass Sie mich dazu ermuntern, freut mich natürlich …

Und weiter im Juli:

Mit den Überlegungen zu dem Aufsatz “Nähe und Ferne …” bin ich noch nicht weit gekommen … Beim Stöbern im Büchner-Portal habe ich bisher wenig gefunden über das politische Junge Deutschland in der Schweiz – am meisten in Büchners Briefen über seine Abgrenzung gegenüber den Wachstürmern, Flüchtlingen … In den Schriften von Eduard Scriba wundert mich die Nichterwähnung von Georg Büchner. Mit Wiener, der gerade aus Deutschland geflüchtet war, hat er bestimmt 1835 auf der Wanderung durch die Schweiz über die “Gesellschaft für Menschenrechte” und den “Hessischen Landboten” gesprochen. Auch in seinen Briefen habe ich nichts über Büchner gefunden. Kontakte zwischen den Butzbachern und dem J.D. hat es gegeben. Vielleicht ist die Scriba’sche Übersetzung mit seiner Kommentierung der Menschenrechte von Robespierre auf Anregung aus Butzbach entstanden? Jedenfalls wurde sie als Flugblatt gedruckt und unter den wandernden Handwerksburschen verteilt.

Seit August denke ich immer mal wieder darüber nach, ob und wie ich diesen Aufsatz für das Büchner-Portal hinkriegen könnte. Für mich ist wichtig, dass Eduard sich wie Büchner für Demokratie, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und ein einiges Europa einsetzte, beide für ihre Ziele eine sichere bürgerliche Existenz aufs Spiel setzten und beide so jung 1837 starben. Und meinem Vater bin ich dankbar für eine fehlerhafte Quelle in seinem Archiv, die mich zu dem vollständigen Original aus dem Scriba-Archiv führte.

Und so endet Ferdinands Brief:

Die wachgerufene Erinnerung an alte Zeiten, vielleicht auch die garrulitas senilis, hat mich weiter geführt, als ich wollte. Verzeihen Sie, hoch verehrter Herr Professor, diese Weitschweifigkeit und ziehen Sie ab und heraus, was in ihren Plan gehört und paßt. Schriftliche Aufzeichnungen meines Bruders aus seiner Studentenzeit sind keine vorhanden, unter den wenigen aus seiner 3jährigen Schweizer Flüchtlingszeit befinden sich in meinem Besitz ein gutes Miniaturbild von ihm in Bleistiftzeichnung von de Schwanden, und eine weniger gute Copie in Pastell von dem selben Meister (das Original hat sich mein Neffe, der Pfarrer Ellenberger in Ortenberg zugeeignet), sodann 2 große Reisebeschreibungen durch die Schweiz, – die eine im Jahre 1834 mit seinen Lausanner Institutsknaben, die andere im Jahre 1835 mit seinem eben erwähnten Freunde H. Wiener (beide für seine Braut Elise Lang, nachmals verehelichte Dr. Jost und erst vor 2 Jahren gestorben, verfaßt, beide dieser von starker, persönlicher Färbung in glänzend blühender Sprache, in letzterer sieht man überall die Fäden der ausgesponnenen Verschwörungspolitik hervorleuchten.) Ein Stück Frankfurter Journal nebst den bezeichnenden Steckbriefen, sowie eine Abschrift aus der schwarzen Liste des Bundestags über die Flüchtlinge lege ich bei (letztere bitte ich mir gelegentlich zurück) ein ganz nettes Geburtstagsgedicht in Hexametern vom Jahre 1835 kann ich Ihnen, wenn Sie es wünschen, noch abschreiben und nachsenden.

Die verwandtschaftlichen Beziehungen, die Sie so freundlich am Schlusse ihres lieben Briefes erwähnen, sind mir eine Ehre und Freude, und ich hoffe, wenn ich jetzt D. V. gleich nach Pfingsten mein Domicil in Laubach aufgeschlagen haben werde, Ihnen soweit entgegengekommen zu sein, daß, da ich bei meinem 81jährigen Altersgebresten, Sie nicht in Gießen aufsuchen kann, wir doch die jetzt schriftlich angeknüpfte, gegenseitige Bekanntschaft dann auch in Laubach angenehm erweitern können. In dieser Hoffnung verbleibe ich mit vetterlichem Gruß

Ihr ergebenster

Ferdinand Scriba Pfr.

Sprendlingen, Kr. Offenbach 22.4.1899

Anmerkungen:

  • Ferdinand Scriba schrieb den Brief vermutlich an Herman Haupt, der in „Hessische Biographien“ (2. Bd., Darmstadt 1927, S. 109-111) eine ausführliche Biografie über Eduard Scriba aufgenommen hat. Als Quelle wird dort u. a. angegeben: „Briefliche Mitteilungen und Tagebücher des verstorbenen Bruders, Pfarrer Ferdinand Scriba“.
  • Zu der von Ferdinand Scriba beschriebenen Wanderung mit seinem Bruder Eduard und August Becker von Burkhards nach Gießen vgl. Eberhard Kickartz: „Der Rote Becker“ – Das politisch-publizistische Wirken des Büchner-Freundes August Becker (1812-1871). Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 110. Darmstadt und Marburg 1997 (Diss. Universität Bochum) S. 20: Becker hatte „1832 … eine Stelle als Hauslehrer bei der Familie des Steuereinnehmers Karl August Höflinger in Burkhards angenommen“ – Beckers Aussage in einem Polizeibericht 1835.
  •    In Burkhards lebte ab 1830 Eduards und Ferdinands Schwester Amalie mit ihrer Familie. Sie war mit Konrad Koch verheiratet, der etwa 10 Jahre Pfarrer in Burkhards war. Die Scriba-Brüder waren der Familie Koch eng verbunden (vgl. Federflug 23, Kapitel 2, ab S. 22 und Kapitel 7.3, ab S. 109).
  • Die von Ferdinand Scriba erwähnte Reisebeschreibung „Eduard Scriba: Reise durch die Schweiz im Spätsommer 1835 mit Hermann Wiener“ ist als Federflug 24 vom Familienbund Scriba/Schreiber e. V. 2019 veröffentlicht.

PS. Über Eduard Scriba ist immer noch Federflug 23 und 24 im Shop bestellbar. Ein Ausdruck des oben genannten Briefes wird als Ergänzung mitgeliefert.

PPS. Eduard starb mit 29 Jahren an Blattern (Pocken) in Liverpool. Eine Impfung gab es damals schon, die er aber durch sein bewegtes Leben in Hessen verpasst hatte. Sein Bruder Ferdinand steckte sich nicht an, weil er geimpft war. So konnte er mein Ururgroßvater werden.

Hamburg, Oktober 2021                                        Regine Cöster-Bondick D 11..025.14.641